Von Günther Sigmund aus “Pocket Stories to Go”
Stau
Der Tag würde heiß werden, sehr heiß sogar. Jakob Brandmayer hatte sein Frühstück beendet, jetzt prüfte er den Revolver. Die Kammern der Trommel waren mit sechs Schuss vom Kaliber .357 Magnum geladen, eine besonders durchschlagkräftige Patrone, absolut tödlich. Er hatte sich bewusst für einen Revolver der Marke Colt entschieden. Das Modell Python überzeugte nicht nur durch den gefährlich klingenden Namen, sondern war fabelhaft in der Verarbeitung, mit einem perfekt ergonomischen Holzgriff und einem wundervoll glänzenden Lauf aus Stahl. Die schwere Waffe war ungewöhnlich handlich, nicht zu groß, ideal für die Jackentasche. Jakob hatte sich gut beraten lassen. Er packte den Revolver in das Handschuhfach des alten Ford, dann fuhr er zur Arbeit, so wie jeden Tag.
Das Autoradio funktionierte schon lange nicht mehr, Jakobs Gedanken schweiften ab. Letzte Woche, es war sein fünfzigster Geburtstag, da hatte man ihn entlassen. Über dreißig Jahre hatte er der Firma treu gedient, war niemals krank gewesen und hatte seine Arbeit stets ordentlich erledigt. Keiner verfügte über so viel Erfahrung wie er. Jetzt war er zu alt, zu unkreativ, es fehlte ihm an neuen, revolutionären Ideen – sagte sein neuer Chef, bevor dieser ihn ohne Skrupel auf die Straße setzte. Friedhelm Gutrecht – Herr Friedhelm Gutrecht – ein junger Schnösel mit gegeltem Haar, so wie es die aufstrebenden Manager heute eben trugen. Abschluss mit Auszeichnung, natürlich an einer Elite-Universität. Forsches Auftreten, spricht drei Sprachen fließend. Eine Dynamik, die von den Vorständen heute gefordert wurden. Viel gesehen, nichts erlebt. Erfahrung zählte heute nicht. Jakobs Generation versprach dem Aufsichtsrat der Firma keinen Mehrwert. Ausgemustert, ab zum alten Eisen, soll selber sehen wo er bleibt.
Es war heiß, der heißeste Tag des Jahres sollte es werden, so sagten es die Morgennachrichten. Jakob musste schwitzen, dabei war es noch nicht mal acht Uhr. Er hätte schon längst die Klimaanlage reparieren lassen sollen – egal. Jakob fuhr wie gewöhnlich auf die Autobahn. Dreißig Minuten etwa, dann würde er sein Ziel erreicht haben, dann würde er seinem Chef – Herrn Friedhelm Gutrecht – dem karrieregeilen Arschkriecher zeigen, welche umwerfenden Ideen er aus seiner Tasche zaubern könnte. Dann würden dem Schönling die Argumente ausgehen, wenn dieser in den Lauf seines neuen Colts Python mit den Magnum-Geschossen blicken würde. Doch Jakob kam nicht weit, nach wenigen Kilometern verlangsamte sich die Blechkolonne in Richtung Stadt – ein Stau. Wenig später war sein Ford zum Stillstand gekommen. Jakob wartete und blickte nervös auf die Uhr. Die Zeit verging langsam – eine Minute – zwei Minuten – drei. Seine Finger trommelten nervös auf dem Lenkrad. Nach fünf Minuten bewegte sich immer noch nichts. Die Autos um ihn herum hatten bereits die Motoren abgestellt. Dann hörte er jemanden rufen: „Vollsperrung! Das kann dauern!“ Mist, dachte sich Jakob, ausgerechnet heute. Die Sonne prallte unerbittlich vom blauen Firmament auf die Metallkarossen der Festgefahrenen. Das Glas der Autoscheiben verstärkte die Brennwirkung und ließ die Hitze im Innern der Fahrzeuge unaufhaltsam steigen. Jakob hatte längst schon das Fenster heruntergekurbelt. Sein Blick schweifte umher und so nahm er die im Schicksal Mitgefangenen um ihn herum wahr. Jakobs Ford stand auf der mittleren von drei Spuren. Links vorn ein LKW, direkt vor ihm ein junges Paar in einem alten VW. Sie hatte ihr langes Haar zu einem Zopf zusammengebunden – genau wie seine Tochter. Rechts daneben ein teurer Mercedes. Die Fenster waren geschlossen, dort funktionierte die Klimaanlage wohl. Der Fahrer, ein Geschäftsmann, telefonierte mit seinem Handy. Rechts neben Jakob stand ein Cabriolet. Der gut aussehende Typ in dem schnellen, roten Flitzer kam genauso wenig vom Platz wie Jakob – wenigstens. Links kam ein Ehepaar zum Stehen, etwa in seinem Alter. Sie diskutierten angeregt. Nicht zu überhören, auch sie hatten die Fenster offen.
Die Hitze war drückend, man konnte kaum einen nüchternen Gedanken verfolgen. Der Schweiß ließ das Hemd am Körper kleben. Blutdruck und Puls stiegen. Jakob nagte nervös auf der Unterlippe – seine Finger trommelten nun fester auf dem Lenkrad. Er bemerkte, wie das Liebespaar vor ihm heftig zu knutschen begann. Diese Schlampe, und dachte dabei an seine Tochter. Kein Schamgefühl, treibt es mit allen. Er hatte ihr doch alles geboten und so viel Liebe geschenkt! Warum tat sie ihm das jetzt an? Warum hasste sie ihn? Ständig ein neuer Kerl, den sie mit nach Hause geschleppt hatte. Jetzt ist sie weg, genau wie ihre Mutter. Dort, vor ihm, das war sicherlich genau so ein Luder. Er hasste sie.
Dann kam der Mercedes wieder in sein Blickfeld. Der noble Herr telefonierte immer noch, muss wohl was ganz Wichtiges sein. Seine Sekretärin oder seine Geliebte. Ihn, Jakob Brandmayer, hatte schon lange niemand mehr angerufen. Er hatte hier nicht mal einen Empfang mit seinem alten Handy. Scheiß Erfolgsmenschen.
Jetzt wusste Jakob auch an wen ihn der sportliche Typ rechts erinnerte: Friedhelm Gutrecht – Herr Friedhelm Gutrecht! Wahrscheinlich hatte der sich auch gerade so einen teuren Sportwagen zugelegt, während er, Jakob Brandmayer, der Firma zu teuer wurde.
Da vernahm er, wie zu seiner Linken die Diskussion lauter und heftiger wurde. Das Ehepaar zankte sich. Genau wie er und Marlene, bevor sie ihn verlassen hatte. Er konnte es nicht begreifen, warum sie ging. Das Geschnatter von der Frau neben ihm wurde immer unerträglicher. In seinem Kopf klingelte es. „Du verdammter Versager!“, hörte er sie rufen, dann wurde es still um ihn herum. Leerer Raum, starrer Blick, Jakob hatte den Kontakt zur Außenwelt verloren.
Flimmern über dem heißen Asphalt, aufgeladene Atmosphäre. Wütend schlug Jakob auf das Lenkrad. „Nein!“, rief er laut, „kein Versager!“, und öffnete das Handschuhfach. Dann ging alles sehr schnell. Mit dem Colt in seiner Rechten sprang Jakob urplötzlich aus dem Auto. Der erste Schuss traf die schnatternde Beifahrerin in den Kopf.
Ruhe!
Bevor irgendjemand begriff, was geschah, war Jakob schon um seinen Wagen gelaufen und feuerte ein zweites Mal. Das rote Blut des Angebers verteilte sich spritzend über das schicke Cabrio.
Da hast Du ´s!
Nach wenigen Schritten stand er neben dem jungen Mädchen, das sprachlos vor Angst auf seine Waffe stierte. Ein Knall und aus.
Das kommt davon!
Jakob drehte sich um. Er blickte dem Geschäftsmann direkt in die Augen. Jakob zögerte für einen Moment, das Gesicht kam ihm bekannt vor – was soll’s und drückte ab. Glas splitterte, mit einem großen, schwarz roten Loch in der Schläfe schlug der Kopf des Mannes zur Seite.
Diesmal hab ich entschieden!
Aus dem Handy, das auf den Beifahrersitz rutschte, hörte er eine Frauenstimme rufen: „Herr Cordes? Herr Cordes!“ Jakob drückte noch einmal ab und das Gerät zersprang in tausend Teile.
Schluss jetzt!
Jakob sah sich um. Es ist kühler geworden – und ruhiger. Eine letzte Patrone befand sich noch in der Kammer. Die konnte nur für einen bestimmt sein!
Frau Weiland saß besorgt hinter dem Schreibtisch. Die Leitung zu ihrem Chef wurde plötzlich unterbrochen und ließ sich auch nicht mehr aufbauen – belegt. „Was waren Herr Cordes letzte Anweisungen?“, überlegte sie. „Ach ja: Herr Brandmayer einstellen!“, erinnerte sie sich. Eine gute Entscheidung empfand sie. Endlich jemand, der ausreichend Erfahrung auf diesem Gebiet mitbrachte. Nicht so wie der Vorgänger, dieser Herr Gutrecht – der Schnösel.